Durch die Wand gehört: Orte der Lautsphäre ist das deutschsprachige Skript des Vortrags und der späteren Veröffentlichung in: Soundscape i kunsten / Soundscape in the Arts, hrsg. v. Joran Rudi (norweg./engl.), NOTAM, Oslo 2011, Texte von Natasha Barrett, Bill Fontana, Kristof Georgen, Fransisco Lopez, Joran Rudi u.a.
Symposium: Soundscape in the Arts, NOTAM, Oslo, 8. - 10. April 2010
Ich werde oft gefragt, warum ich als Bildhauer mit Klang und Geräusch arbeite? Welche Beziehungen bestehen zwischen auditiven und traditionell der Bildhauerei zugeordneten Materialien? Welches Verhältnis besteht zwischen einer der Bildhauerei zugeordneten Raumauffassung und der Lautsphäre?
Um Fragen wie diese zu beantworten, könnte ich am Beginn des 20. Jahrhunderts ansetzen und über die Bedeutung der kunst- und musikgeschichtlichen Bezugsquellen für die gegenwärtige künstlerisch-auditive Produktion sprechen. Ich könnte aber auch in den 1960er Jahren beginnen, einem Zeitraum, in dem sich in der Bildenden Kunst und Musik „offene“ und temporäre Formen der Aufführungs- und Werkpraxis als künstlerische Verfahrensweisen etablierten. Ich denke hier beispielsweise an Bewegungen wie Fluxus, Landart, an John Cage oder Max Neuhaus mit ihrem Bezug zum Alltag, zum (Umgebungs-) Raum und zum eigenen Körper. Da ich Bildender Künstler bin, werde ich die Fragen vorrangig anhand meiner eigenen Arbeit erläutern und nur am Rande die kunsthistorischen Hintergründe einfließen lassen. Themen meines Vortrags sind
1. Ortsbegriff und Arbeitsprozess
2. Ort und Leibwahrnehmung
3. Ort und Erfahrung
Ich stelle exemplarische Installationen aus den Jahren 2006 bis 2008 vor wie Zirkulation (Jugendtraum), Nr.26. und allein. Meine Installationen und Projekte thematisieren die Hörwahrnehmung unserer Alltagswirklichkeit.
Die Realisierung erfolgt ortsspezifisch, oder im institutionellen Ausstellungskontext anhand der auditiven Einspielung,
einer erstellten Architektur und anhand von Objekten.
1. Ortsbegriff und Arbeitsprozess
1.1. Beispiel
Im Folgenden möchte ich erklären, was ich unter Ort und Raum verstehe. Anhand verschiedener Arbeiten aus meinem Werk erläutere ich genauer in welcher Beziehung diese zur Lautsphäre stehen. Im Herbst 2007 wurde ich von der Städtischen Galerie Backnang angesprochen, für die Ausstellungsräume eine Installation zu entwickeln. Der Ort für die Arbeit war ein in die Galeriearchitektur eingegliederter Chorraum mit Apsis einer ehemaligen Kirche, die in ihrer Ganzheit nicht mehr existiert und heute Teil des Museums ist. Mein Impuls zu reagieren, lag insbesondere in der Tatsache begründet, dass dieser Raum ein 'Ort' mit eigener Geschichte und ein alltäglicher Ort des Menschen darstellte. Der kulturelle Gebrauch des Chorraums hatte wie allerorts religiöse Funktionen, hier wurde gepredigt und gebetet. Die Apsis des Chorraums stellt eine architektonische und mentale Schnittstelle dar, die das Innen mit dem Außen, Gegenwart und zukünftige Erwartung verbindet. Heutzutage ist diese Funktion „assimiliert“, der Ort ist neu besetzt und dennoch wirkt die alte Bedeutung noch nach. Es scheint so, als müssten sich White Cube und Kirchenraum die Aufmerksamkeit teilen!
In der Arbeit Zirkulation (Jugendtraum) im Chorraum der Städtischen Galerie Backnang führte ich den vorhandenen historischen Ort mit eigenen Erinnerungen zusammen. In Analogie zur Architektur und einem Traum, den ich als Jugendlicher immer wieder hatte, platzierte ich verschiedene Objekte auf dem Boden: eine Tischtennisplatte, ein Dual-Plattenspieler mit mechanischem Endlosmodus, einige im Halbkreis angeordnete Podeste, ein Megafon auf Holzpfählen, LPs und eine Wolldecke.
Der Jugendtraum ist der einzige akustische Traum, den ich erinnere. Charakteristisch darin war ein hochfrequenter schwebender Dauerton.
Aber zunächst zeichnete ich – wie fast immer als Einstieg in die Arbeit vor Ort – die Lautsphäre zu unterschiedlichen Tageszeiten auf: im Chorraum selbst, aber auch außerhalb der Kirchenwände auf der Straße und ebenso hoch oben auf dem Turm, der sich über dem Chorraum befindet. Diese Aufzeichnungssituationen ergaben eine Überschneidung der Lautereignisse am jeweils gegenüberliegenden Standort. Die durchaus ungewöhnliche, über die Jahrhunderte zusammengesetzte Architektur des Ortes (Kirche/Turmschulhaus/Museum), ermöglichte eine vertikale wie horizontale Hörwahrnehmung aus dem Zentrum des Chorraums heraus (Skizze). Die alltägliche Lautsphäre kann aus dem Richtungswechsel eines Innen - Außen und Oben - Unten wahrgenommen werden. Differenzierungen entstehen aufgrund der Gebäudearchitektur wie der Apsiswand und ihrer Materialien Stein und Glas. Je nach Standort hören wir die gleichen Lautereignisse mit unterschiedlicher Prägnanz.
Städtische Galerie Backnang / Technische Skizze / Zirkulation (Jugendtraum), Installationsansicht
Die Einspielung wurde über sechs Kanäle realisiert. Fünf Lautsprecher sind unsichtbar im Umlauf des Chorraums verankert. Ein weiterer Monokanal, der sechste Lautsprecher, befindet sich unter dem Plattenspieler.
Der über die fünf äußeren Lautsprecher eingespielte Klang ist ein zirkulierender Klang, der den Hörer und das architektonische Zentrum umkreist. Dieser Klang interferiert mit weiteren Klängen aus der Lautsphäre (Wind, Glocken, Schritte, Sprache). Geräusche wie das reale Ein- und Ausschaltgeräusch des Plattenspielers oder die Knistergeräusche einer produzierten LP (Dubplate) werden zeitversetzt auch über die äußeren Lautsprecher wiedergegeben.
Zirkulation (Jugendtraum) stellt der gegebenen Lautsphäre vor Ort bearbeitete und archivierte Klänge gegenüber. Die Einspielung über verschiedene Medien wie Plattenspieler, Lautsprecher und Megafon thematisiert Hörgewohnheiten und die Medialisierung von Klang.
Das Beispiel zeigt wie die kulturellen Bedeutungen des Ortes und die Lautsphäre in Beziehung zueinander stehen und wie ich diese im Arbeitsprozess nutze. Es entstehen Analogien aus visuellen und auditiven Elementen, auf die ich aus meiner Alltagsbeobachtung heraus aufmerksam werde. Das ephemere akustische Ausgangsmaterial des Ortes wird reorganisiert, indem Anwesendes nochmal anwesend gemacht wird und der Standort des Hörers neu fokussiert wird. Im Sinne eines verborgenen „akusmatischen“ Hörens1 sind die Schallquellen der Schallereignisse im Realraum und der Lautsprecher hörbar, aber teils nicht sichtbar.
1.2. Ortsbegriff
Alle visuellen, auditiven, architektonischen aber auch haptischen Eindrücke und Informationen eines Ortes treffen auf unsere Hörerfahrung und lassen uns einen Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt situativ wahrnehmen. Der Vorgang einer Gleichzeitigkeit von zeitlich versetzten Bedeutungen ist nicht statisch, sondern von zeitlicher, ortsspezifischer Ausprägung. Zeitlichkeit bezieht sich gleichermaßen aus der Geschichte des Ortes, dem „Jetzt“ und der eigenen Erinnerung – einem „Gedächtnis“ als Synthese aus gewachsener Historie und gegenwärtiger Wahrnehmung des Besuchers. In diesem Sinne sind Orte ständig wachsende „Reflexionsräume“ – eine Art Archiv „gestapelter“ Geschichte.
Geografisch gesehen, bilden Orte genaue Koordinaten. Orte sind im Gegensatz zum Raum spezifischer definiert. Sie charakterisieren sich durch eindeutige Identifikation von Bedeutungen. Diese sind Objekte, Architekturen und ihnen zugewiesene Handlungen (Kirche, Wohnung, Schwimmbad). Grafisch gedacht, können wir uns den Ort als Punkt vorstellen, der für eine jeweilige Handlung im Lebensalltag steht. Durch die Entfernung von einem Ort, oder das Hin- und Herpendeln zwischen mehreren Orten, wird die Differenz erfahrbar. Es entsteht Raum. Die dimensionale Ausbreitung ist als zeit-räumliche Struktur vorstellbar. Grafisch gesehen, entsteht dann aus einem Einzelpunkt eine Streuung oder Verdichtung von Punkten. Ihre Abstände können wir uns als Bewegungslinie denken, einer Interaktion vom Ort in den Raum. Auch die musikalische Notation ist Bild einer solchen Bewegungslinie von Tönen und akustischer Materialien.
Mit meiner kurzen Erläuterung möchte ich auch aufzeigen, dass sich Ort gegenüber Raum als eine äußerst „kleine“ spezifische Einheit definiert. Ihre Differenz vermittelt kulturelle Informationen und Handlungen vor Ort sind immer akustische Bewegungen. Die akustische Information als Identifikation des Ortes verweist in Form eines Kreislaufs über Körper, Material und Ohr auf die Alltagswirklichkeit dieser Orte. Als grafische Veranschaulichung einer Ereignisstruktur dienen auch folgende Zeichnungen, die in diesem Fall als Notation von intentionalen, geräuschhaften Linien gelesen werden können:
Zeichnungen, Studierende, 2. Semester Kulturgestaltung, 2006, Hochschule für Gestaltung, Schwäbisch Hall
Michael Müller und Franz Dröge thematisieren in ihrem Buch „Die ausgestellte Stadt“ die Ästhetisierung städtischer Lebensräume seit der Renaissance. Die Autoren zeigen die veränderte ästhetische Wahrnehmung des Ortes am Beispiel Ambrogio Lorenzettis Fresko des „Buon Governo“ ("Effetti del Buon Governo in campagna", Palazzo Pubblico, Siena, 1338-39) als eine Verschiebung vom Ort in den Raum. In den Fresken Lorenzettis – entstanden zu Beginn der italienischen Stadtrepubliken im 14. Jahrhundert – wird ersichtlich, dass „nicht nur der je einzelne Ort die Menschen interessiert, sondern das, was die Bauten, Plätze, Straßen, Begrenzungen und Umgebungen verbindet und was diese Verbindungen erzeugt, aber auch verhindert.“2 Das Fresko zeigt den Blick auf das Leben innerhalb der Stadtmauern und führt über diese Begrenzung hinaus in die Landschaft und landwirtschaftlichen Tätigkeiten.
Der Vorgang einer Ver-Räumlichung von Orten und ihren akustischen Veränderungen können wir auch in der Lautsphäre beobachten. So analysierte Murray Schafer3 1977 die durch Bewegung und Globalisierung geprägte Klang- und Lautsphäre als eine akustische Verschiebung von „high- nach low fidelity“ (dt.: hohe bzw. niedrige Wiedergabetreue eines Signals). Murray Schafer behandelt hierbei weniger die veränderte Selbstwahrnehmung, als vielmehr an die durch die industrielle Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert durch Motoren veränderte Geräuschkulisse. Ihre Redundanz als Signalüberfüllung entsteht durch den Motor selbst, aber auch durch dessen Bewegung im Raum als Zeugnis akustischer Hörwirklichkeit einer mobilen Welt.
1.3. Weitere Beispiele
Weitere beispielhafte Orte in meinem Werk, die den Zusammenhang von Ort, Alltag und Lautsphäre situativ aufzeigen, sind folgende:
- Mühlenstraße 5, Bushaltestelle „Amtsgericht“, Donaueschingen: Passage, 2006
Mühlenstraße 5, Donaueschingen / Technische Projektskizze / Installationsansicht Passage
- Ettlinger-Tor-Platz, Karlsruhe: singen 49.03°/8.24°, 2003 - 2006
Ettlinger-Tor-Platz, Karlsruhe / Technische Skizze / Installationsansicht singen 49.03°/8.24°
- Ehemalige Großküche der Veranstaltungshallen und des Restaurants „Donaustuben“, Donaueschingen: Leerstand, 2006
Ehemalige Großküche, Donaueschingen / Technische Skizze / Installationsansicht Leerstand
- Historische Versammlungshalle und Ort heutiger Stadtratssitzungen, Friedrichsbau Bühl: refrain I (Bühne), 2008
Friedrichsbau Bühl / Technische Skizze / Installationsansicht refrain I (Bühne)
Wie anhand dieser Ortsbeispiele aufgezeigt, bildet für mich die vorgefundene Situation einen wesentlichen Impuls für die Umsetzung meiner Arbeiten. Die alltägliche Hör-Wahrnehmung von oftmals nur nebensächlich wahrgenommenen, alltäglichen Klangbeziehungen vor Ort zieht sich durch den kompletten Arbeitsprozess und wird thematisch fokussiert. Dem Ausgangspunkt des ersten Besuchs folgt die weitere Recherche, die Aufzeichnung der Lautsphäre vor Ort, das thematische Archivieren von Geräuschen, die Analyse der Aufzeichnung nach Klangeigenschaften und Bedeutungsfeldern, Selektion und Schnitt der Aufzeichnungen, die Kanalzuweisung und Anordnung der Einspielung, der Aufbau, die vor-Ort-Erfahrung und Dokumentation.
2. Ort und Leiberfahrung
Anhand von zwei Arbeiten veranschauliche ich im Folgenden, wie die Eigenbewegung des Körpers im Raum Geräusche erzeugt. In Beziehung zum dargestellten Ort-Raum-Verhältnis steht der Leib dabei für eine zeit-räumliche Gliederung: die Arbeit allein (Jogger) entstand 2007 und handelt vom abendlichen Joggen im Wald. Nr. 26 aus dem Jahr 2006 fokussiert dagegen die Lautsphäre des privaten Wohnraums.
In beiden Arbeiten führte der Arbeitsprozess zu einer klaren Abgrenzung des auditiven Materials gegenüber der oftmals wenig prägnanten, städtischen Lautsphäre. Nr. 26 und allein zeigen einen spezifischen Gegenstandsbezug, eine verminderte Geräuschvielfalt und einen hohen Stellenwert eigener Körpergeräusche. Charakteristisch ist außerdem ein hoher Anteil selbstbestimmter Geräusche!
Fotografie von Haus Nr. 26 / Technische Skizze / Installationsansicht Nr.26
Die Analyse langer Aufzeichnungszyklen meines privaten Umfeldes in der Arbeit Nr. 26 richtete die Aufmerksamkeit auf den eigenen Körper als Ursache und Motor einer selbstbestimmten Lautsphäre innerhalb der „eigenen vier Wände“. Es sind weniger die bunten, gegenständlichen Geräusche, sondern die Reibungen, Kratz- und Raschelgeräusche, die unser ständiger Begleiter beim Rasieren, Anziehen, sich bewegen, Zwiebel schälen und schlafen sind. Ihr geringer Geräuschpegel bildet ein feingliedriges Klang- und Lautfeld. Der durch die Architektur begrenzte akustische Raum ist ein „akustisches Nahfeld“. Alltag zeigt sich dabei als Mikrokosmos, als autobiografische Mikrogeschichte von selbstbestimmten Handgriffen und Handlungen, die akustisch aufeinanderfolgen und sich wiederholen. In der Komposition setzte ich insofern einen Loop aus folgender Geräuschsequenz ein:
Grundmuster „leises Material / ego“ als Loop: (Datei_1 / 28.06.06, Mittwochmorgen)
0) im Bad, Klacken eines Gegenstandes / Körpergeräusche 3``
1) im Bad am Wäscheständer / Körpergeräusche 17``
2) Küchentisch knattert beim Brote machen / Körpergeräusche 8``
3) Frühstück mit zweiter Person, Schuh / Körpergeräusche 21``
4) Frühstück alleine, Marmeladenglasdeckel, Küchentisch knattert 11``
5) abwischen, stöhnen 8``
6) Küchentheke knattert beim Zeitung lesen 15``
7) am Schreibtisch im Arbeitszimmer mit laptop / Körpergeräusche 40``
gesamt 02`:03``
Akustisch ist es, als ob Sie den Nachbar durch die Wand hören!
In Nr. 26 konstituiert die Anwesenheit der handelnden Person den Ort im Raum. Entgegen einem voyeuristischen, lauten „Außen“ ist der private Raum ein Schutzraum. Die autobiografischen Elemente der Arbeit zeigen auch die kulturelle Prägung von Wohnen4 als Ort des Rückzugs der europäischen Kultur. Als selbstbestimmte Lautsphäre innerhalb eines größeren Maßstabs, verwies Murray Schafer5 auf die Möglichkeit einer eigenverantwortlich durch den Menschen „orchestrierten Umgebung als verbesserte Umweltbedingung “. Die eigenen vier Wände könnten hierzu ein Beispiel sein.
2.2. allein
Auch in der Arbeit allein findet sich das kompositorische Element der Wiederholung und der Bezug auf den eigenen Körper. Hier jedoch innerhalb des Bewegungsablaufs eines Läufers, der im Wald – also der öffentlichen Lautsphäre – seine Runden dreht.
Installationsansicht allein / Technische Skizze / Ausstellungsarchitektur / Flyer
In der Installation wurden die Körpergeräusche des Läufers in eine rotierende Bewegung gesetzt. Die dokumentarischen Aufzeichnungen des Körpers wie Atem, Reibung der Kleidung, Auftreten der Schuhe auf dem Boden und die vibrierende Gewicht des Körpers bilden den Kern der Komposition. Diese Geräusche heben sich gegenüber der Lautsphäre des Naturraums ab: der akustische Raum des Originalschauplatzes ist ein am Hang gelegener Wald entlang eines Tales. Seine spezifische geografische Situation birgt einen hohen Hallanteil der Klangereignisse. Ferne Klänge von Hundegebell und Schießübungen in der ansonsten abgeschiedenen Stille des Waldes stehen im Kontrast zu den Körpergeräuschen des Läufers, die nah abgebildet sind.
Die im Mehrkanalverfahren eingespielte Grundsequenz aus diesen Körpergeräuschen ist im Gegensatz zu den Mikrogeräuschen aus Nr. 26 ein ständig zirkulierender Rhythmus. In Form von Richtungswechseln wird die zirkulierende Bewegungsspur (Grundsequenz) durchkreuzt von anderen akustischen Laufspuren. Verdichtungen und Überlagerungen entstehen, die beispielsweise das individuelle Laufen schlagartig zum Massenphänomen steigern.
Aus dem Arbeitsprozess heraus ist ein 18 minütiger Loop entstanden; ohne dieses Zeitmaß vorher festgelegt zu haben, entspricht dieses ziemlich genau derjenigen Zeit, die ich für eine Runde real brauche.
Allein ist wie Nr. 26 eine Arbeit, die nicht am Ort der originalen Aufzeichnungen realisiert wurde. Beide Arbeiten sind anhand adäquater architektonischer Elemente für den institutionellen Kontext entstanden. Es fand eine kompositionelle „Übertragung“ des Originalschauplatzes an einen anderen Ort statt. Für Nr. 26 baute ich einen rechteckigen aus Holzwänden konstruierten Raum im Museum. Der Boden war mit einem Teppich ausgelegt und ein rundes Podest diente als Sitzmöglichkeit. Die gedämpften Geräusche der Besucher im Raum mischten sich in die eingespielte „Körperbiografie“. Situativ konnten Überlagerungen entstehen, die eine völlige Auflösung der Einspielung im Realraum bedeuteten. Es könnte die Frage folgen, was hier eigentlich die künstlerische Arbeit sei? In Bezug auf die traditionelle musikalische Aufführungspraxis und einem Werkbegriff, der eine in sich geschlossene Form gegenüber dem Umgebungsraum darstellt, ist diese Frage durchaus angebracht.
Allein entstand ebenfalls als auditiv - architektonische Installation für den institutionellen Raum (bodycheck, 10. Triennale Fellbach, 2007 6 ). Der architektonische Raum der Arbeit ist in Analogie zum Laufparcours in Form einer Rotunde realisiert (300 cm hoch, 50 cm stark). Innerhalb der gelochten Innenwand sind kreisförmig in gleichen Abständen fünf Lautsprecher angebracht, die durch das Lochraster hindurch den Klang ausspielen. Als Teil der Ausstellungsarchitektur der Triennale Fellbach bildet die Rotunde den Kopf der aus Ausstellungswänden nachgestellten Figur, die als schemenhaftes „Strichmännchen“ auf den Titel der Ausstellung bodycheck anspielt.
Mit der Rotunde entstand ein von visuellen Reizen weitgehend freier Raum, der sich erst dann als „besetzt“ erwiesen hat, wenn er betreten wurde. Aus einem entlegenen Winkel der großen Ausstellungshalle mischten sich zeitweilig die harten Beats eines ACDC-Videos, die weniger störend, sondern vielmehr integrativ, ein Bestandteil des Laufens sein könnten.
2. Ort und Erfahrung
Ausgehend von meinen Ausführungen zu Ort, Raum und deren Stellenwert im künstlerischen Arbeitsprozess möchte ich das Thema der alltäglichen und ästhetischen Erfahrung umreißen und dann zum Schluss kommen.
Es stellt sich mir immer wieder die Frage, welche Unterschiede und strukturellen Ähnlichkeiten zwischen meiner Arbeit und dem Alltag bestehen? Hierauf gibt es einige Antworten, die grundsätzlich zwei Bereiche umfassen: 1. Die Welt der Dinge unterliegt einem organisiert – unorganisierten Ereignisfluss, der alltägliche Situationen bestimmt. Ausgehend vom alltäglichen Erleben ist das zeit- räumliche Beziehungsgeflecht von Ereignissen durch feste und unvorhersehbare Parameter bestimmt, die wir uns kontextuell erschließen müssen. Auch die Lautsphäre steht für ein derartiges Beziehungsgeflecht komplexer Geräusch- und Klangbeziehungen.
2. Materialien des Alltags und die alltägliche Situationserfahrung bilden einen konzeptionellen Ausgangspunkt für die künstlerische Praxis und die spätere ästhetische Erfahrungssituation. Damit ist ein Wechselverhältnis von Alltag und Kunst umschrieben, das vom Rezipienten kontextuell erschlossen werden muss. Es hat sich kunstgeschichtlich seit der Moderne entwickelt.
Grundsätzlich bestimmt unsere Prägung und unser Vorwissen, auf welche Art und Weise wir im Alltag Orientierung finden und Fähigkeiten zum Handeln entwickeln. Wenn wir beispielsweise in ein Geschäft gehen und hierzu die Türe öffnen müssen, kennen wir aufgrund von gewonnener Erfahrung Möglichkeiten, diese Tür zu öffnen (…) und treten dann in einen Innenraum, in dem wir eine Temperatur, eine bestimmte räumliche Begrenzung, ein Lautfeld von Nebengeräuschen oder eine bestimmte Form der Kommunikation erwarten. Wir erwarten eine dem Ort und Raum zugewiesene Organisation von Geräuschen, die beispielsweise das Oben und Unten, die Seite, das Vorne und Hinten definiert. Prägung und Kenntnis lassen diese Erwartung funktional bestimmbar werden.
Ein Gegenpol bestimmbarer Erfahrungen bilden Irritationen und das Zusammentreffen unvermuteter Ereignisse. Die Gewohnheit wird mit dem Fremden konfrontiert. Das wäre im Beispiel der Türklinke, die Klinke, die unter meinem Druck laut zu Boden fällt, das Zwitschern des Vogels mitten im Winter oder der Freund, der mir unvermutet entgegen kommt.
Korrektheit - Inkorrektheit, Regelmäßigkeit - Unregelmäßigkeit, Stabilität - Instabilität, Kausalität - Störung sind Begriffe, die dieses Verhältnis umschreiben können. Sie bilden ein Beziehungsgeflecht von Ereignisebenen, das die Neugierde an der Entdeckung weckt, aber auch die Unterschiedlichkeit von Realitätserfahrungen begründet. Ein stabiles, der Realitätserfahrung durchaus konträres System würde dagegen bedeuten, „dass Prozesse stabil sind, wenn das, was schon immer geschehen ist, wieder geschieht. Der einfachste Fall solchen Verhaltens wäre völlige Bewegungslosigkeit.“7
Kunsthistorisch begann der Prozess einer Schnittstelle von Alltag und Kunst seit Alltagsgegenstände (auch das Geräuschhafte) kontextuell in der Ausstellung verortet wurden (Duchamp) und die künstlerische Aktion das Terrain der Straße eroberte (Futurismus und russische Avantgarde). Alle diese Veränderungen sprengten das Verhältnis bisheriger Zuordnungen. Auch Entwicklungen seit den 1950er Jahren wie „Performance“ oder „Projekt“ negieren die geschlossene Gestalt des tradierten Werkbegriffs. Es entsteht eine „offene“ nach temporären, organisatorischen und ortsspezifischen Qualitäten ausgerichtete Form des künstlerischen Werks. Körper, Handlung und Inszenierung wurden Teil von zeit- und ortsspezifischen, auf die Gesellschaft und den Rezipienten ausgerichtete Arbeitsweisen. Umberto Eco prägte 1962 den Begriff des Opera aperta (dt. „offenes Werk)8 , das eine mehrdeutige, aktive Lesbarkeit von Kunst durch den Betrachter voraussetzt. Das Werk ist eine „Konstellation von Zeichen und ein Möglichkeitsfeld der Interpretation“, die sich als eine „Bewegung zwischen Werk und Betrachter“ darstellt. Auch entstand der durch Joseph Beuys geprägte erweiterte Kunstbegriff, der nach einer neuen Verbindung von Kunst und Leben suchte.
Ästhetisch motivierte Erfahrungen entstehen als Kunst in der Landschaft oder im städtischen Raum: eine U-Bahnstation in der Wüste (Martin Kippenberger), der Klang des Vogels im Innenraum des Museums (expodrome: promenade, Dominique Gonzalez-Foerster) oder das kontingente Geräuschereignis als Teil der Aufführungspraxis (John Cage). Eine über alle Sinnesorgane bestimmte Rezeption als „ Reflexionsmodell von Lebens-wirklichkeit“ charakterisiert auch die Arbeit mit der Lautsphäre. Künstlerische, aus dem Alltag entliehene Verfahrensweisen, zeigen oftmals nur subtile Unterscheidungen gegenüber den Situationen des Alltags. Die Unterscheidung von alltäglicher und ästhetischer Erfahrung ist dabei in der Analyse ihrer Absicht zu finden. Weniger die Provokation, sondern die ephemere Irritation und die Kontextualisierung der ästhetischen Situation bilden das zentrale Moment der künstlerischen Arbeit. Im Zentrum dieser Beziehungen steht der Hörer und Betrachter.
Für meine eigene auditive Arbeit sind die Aspekte bestimmbarer und unorganisierter Einheiten der Lautsphäre und das Wechselverhältnis der alltäglichen und ästhetischen Erfahrung ein grundlegendes Potential. Die akustischen, semantischen und ästhetischen Bedeutungsfelder von Klang hält der jeweilige Ort bereit. Formen der künstlerischen Bearbeitung sind die Überhöhung, Unterdrückung und Aufwertung gegebener auditiver Materialien, die anhand der Einspielung auf den Ort rückverweisen. Die alltägliche Situation und die ästhetische Erfahrung greifen ineinander.
Entgegen einer „Ent-Ortung“ heutiger Kulturräume ist der Ort künstlerischer Ausgangspunkt (heterarchischer) präziser Informationen. Der Ort kann Rand oder Zentrum, privater Umraum oder öffentlicher Marktplatz, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit oder ephemerer Nebenschauplatz sein. Die Analyse der Lautsphäre führt aus der Makro- in die Mikrosicht. Sie ist eigentlich nur zweierlei: Biografie des Menschen oder Natur. In meinen Arbeiten bilden Realraum und Einspielung eine gemeinsame Setzung. Kurz gesagt: „Ich leihe mir etwas aus der Realität und bringe es zurück.“
1 gr.: akusmatikoi, Schüler des Pythagoras verbargen sich hinter einem Vorhang um ungestört von optischen Reizen den Vorträgen zuzuhören.
2 Michael Müller / Franz Dröge: Die ausgestellte Stadt: Zur Differenz von Ort und Raum, Gütersloh/Berlin, 2005
3 Richard Murray Schafer: Klang und Krach: Eine Kulturgeschichte des Hörens, Frankfurt am Main,1988 (Originalausgabe: The Tuning of the World, Toronto, 1977.
4 Im Gegensatz zur europäischen Wohnkultur steht beispielsweise in der arabischen Kultur der Innenhof allen Bewohnern angrenzender Häuser als öffentlicher Ort zur Verfügung.
5 Richard Murray Schafer: Klang und Krach: Eine Kulturgeschichte des Hörens, Frankfurt am Main,1988 (Originalausgabe: The Tuning of the World, Toronto, 1977)
6 bodycheck, 10. Triennale Kleinplastik Fellbach, 2007, Kuratoren: Mathias Winzen und Nicole Fritz
7 Harald Atmanspacher: Weder zufällig noch determiniert-Dynamische Systeme und chaotische Prozesse, in: du, Heft Nr.10, Oktober 1997
8 Umberto Eco: Das offene Kunstwerk (1962/67), Frankfurt am Main, 1977/1998 (8.Auflage)