JM: Als Roland Barthes den Begriff »Rauheit der Stimme« eingeführt hatte, hatte mir das sehr eingeleuchtet, weil er so die Musik nicht von ihrer Tiefenwirkung aus denkt, ihrer psychisch-leiblichen Wirkung, in der psychische und leibliche Faktoren untrennbar miteinander verknüpft sind, sondern dass Barthes diese Rauheit vom Körper her gedacht hat - was nur mit der Stimme funktioniert oder mit einigen wenigen Instrumenten wie dem Cello oder dem Saxofon. Rauheit als Erfahrung eines vibrierenden Luftstroms, der den Körper ganz wörtlich affiziert, ergreift. Es ist schwer vorstellbar, dass man diese Rauheit mit dem Klavier erzeugt. Wir haben also diese beiden Pole, einerseits die klassischen wirkungsästhetischen Faktoren und Momente, die immer schon auf einen affektiven, psychischen Bereich im Menschen gehen, und auf der anderen Seite diese eigentümliche Körperlichkeit des Atems und der bewegten Luft, die in der Produktion mitspielt, die affizieren kann, aber nicht Affekte suggeriert, sondern den Körper affiziert, den Körper selber zum schwingenden, zum ergriffenen, von der Schwingung ergriffenen macht.
KG: Wir kennen das, wenn wir mit der Stimme arbeiten, und da gibt es Beispiele wie bei Antonin Artaud, dass Stimme, Körper, Vibration oder auch Ekstase eine direkte Verbindung eingehen können und der Körper uns das alles bereitstellt.
JM: Die Vibration ist hier nicht als rein physikalisches Phänomen gemeint. Es gibt eine Erotik des Affiziertwerdens durch die Stimme, durch den rauen Ton, ein libidinös-leibliches Affiziertwerden vom Klang. Viele Leute kennen das, etwa beim Saxofon oder bei der Trompete; das hängt sehr stark von kulturellen Milieus ab. Der Film arbeitet damit, da er visuelle und akustische Ebenen zusammenkoppelt. In der Geschichte des künstlerischen Arbeitens mit Film findet sich genau das, dass diese verschiedenen Ebenen getrennt sind und dass sie nicht nur problemlos technisch zu unterscheiden sind, sondern zuerst einmal völlig unabhängig voneinander existieren und damit einen immensen Bewegungsraum für die Produktion eröffnen. Im Film existieren von vornherein getrennt: das, was im Film zu sehen ist, und das, was im Film zu hören ist, und das, was als begleitende Musik dazu montiert wird, und zuletzt manchmal ein begleitendes und reflektierendes Sprechen, zum Beispiel ein Bericht oder die Reflexion oder die Erinnerung eines Sprechers. Diese verschiedenen Ebenen können völlig unabhängig voneinander funktionieren und wurden in der Geschichte des Films ja auch erst mühsam zusammen gezwungen.
KG: In meiner eigenen Arbeit kam der Film nach der Akustik. Das heißt, Erfahrungen und Methoden der akustischen Arbeit habe ich auf den Film übertragen. Es sind mehrere Arbeiten mit Film entstanden, die eine gegenseitige Ablenkung von Visuellem und Akustischem erproben. Früher habe ich bei meinen akustischen Installationen oft Objekte im Raum platziert, wie zum Beispiel bei der Arbeit »Zirkulation (Jugendtraum)«. In den letzten Jahren habe ich äquivalent zu den Objekten filmisches Material als visuellen Teil in der Installation verwendet. Dabei hatte ich die Sorge, dass, sobald ich Film einsetze, die ganze Aufmerksamkeit auf dieses Medium gezogen wird. Wir kennen das ja, dass, sobald ein Bewegtbild vorhanden ist, unsere Wahrnehmung angezogen, ganz wörtlich fasziniert wird. Die Verfahren, die ich dann eingesetzt habe, um dieser einseitigen Wahrnehmung auszuweichen, habe ich aus dem Akustischen übernommen. Vor allem die Synchronität von Bild- und Tonebenen: bei all diesen Arbeiten habe ich mehrere Filmstreams eingesetzt und mit Prinzipien von Gleichzeitigkeit gearbeitet, um ein Changieren zwischen den Bildern oder zwischen den Bildern und dem Akustischen zu ermöglichen, Dinge auf- und abtauchen zu lassen. Gegenüber dem Akustischen stehen aber die Bildfolgen in ihrer Gleichzeitigkeit eher nebeneinander, als dass eine echte Überlagerung stattfindet. Ich wollte die Parallelität der Ereignisse und habe sie im Raum mit der Hilfe von Projektionen oder Monitoren mehrkanalig nebeneinander gesetzt. Dabei habe ich auch untersucht, ob es möglich ist, einen Film zu unterbrechen und die Wahrnehmung trotzdem kontinuierlich zu halten, d.h. beispielsweise einen Bildausfall stattfinden zu lassen, den die Situation und die akustische Einspielung auffangen. Die Voraussetzung war immer eine mehrkanalige akustische Situation im Raum, die sich mit dem filmischen Material gekoppelt hat.
JM: Wie gekoppelt?
KG: So, dass zum Beispiel eine Stimme mit einem Körper identisch wurde, aber beide dann auch wieder auseinander driften und andere Klänge in den Vordergrund treten als diejenigen, die das Bildmaterial erwarten lässt. Oder auch, dass ein Bildschirm plötzlich schwarz wird oder der Film ein Störungsbild oder Flimmern zeigt und das Auge frei wird, um zu hören. Ich habe auch monochrome Bilder gesetzt. Das einfarbige Bild des Films im Monitor wird dann als Farbfläche, als Bild, wahrgenommen, wobei die Störung, das Flimmern, ins Funktionale kippt, also tatsächlich nicht mehr Teil des Filmes ist, sondern Teil der Realität wird. Es ist eine Unterbrechung der Narrativität, ein Übergang aus dem filmischen Raum in den realen Raum, und das ist für mich wesentlich gewesen. Das, was ich im Akustischen in vielen Kompositionen durch Schnitt, Überlagerung und Pausen bewirkt habe, das war im Filmischen die Methode, einen Stream anzuhalten, Farbflächen zu setzen und Film mehrkanalig einzusetzen, um die Parallelität von Ereignissen zu erreichen. Insofern bin ich jemand, der von der akustischen Arbeit zum Einsatz von Film kam. Der akustische Part eines Filmes ist für mich das eigentlich dreidimensionale und körperliche Element im Raum. Der Film ist eher eine grafische Ebene. Letztendlich interessieren mich Verfahrensweisen, die das Verhältnis beider Medien bearbeiten, also Möglichkeiten des Hin- und Hergleitens, durch Installationen, die im Raum verteilte Bildquellen und Schallquellen aufweisen.
JM: Bei deinen Zeichnungen ist überraschend, dass ihre Verfahrensweise in einem gewissen Sinne zu der der Fotografien gegenläufig ist. Sie greifen nicht existierende Kontingenzen auf und verstärken sie, sondern sie setzen ein Verfahren ein, das streng seriell ist: die unveränderte Wiederholung immer desselben Strichs, in dem sich dann kontingente Abweichungen unter der Hand ergeben: einerseits dadurch, dass diese Striche nie völlig sauber-mechanisch erzeugt werden können, und zum anderen dadurch, dass die Stärke des Tintenflusses sich verändert, vor allem auf das Ende zu. Es wird hier in ein strenges Verfahren, Kontingenz, eingeführt, die aus den materiellen Bedingungen stammt.
KG: Es geht um die Differenz innerhalb des Gleichartigen. Das findet bei jedem Blatt neu statt und es ist so, dass ich mit einem Stift beginne, diesen unterschiedlich lange benutze und auch, abhängig von meiner Verfasstheit, ruhiger oder weniger ruhig arbeite. Im Arbeitsprozess verliert der Stift an Pigment, ich wechsle den Stift und arbeite mich so blattfüllend von rechts nach links. Papiere beispielsweise sind nie gleich, auch wenn sie von der gleichen Charge stammen, und Stift ist nicht gleich Stift, auch wenn es die gleiche Serie ist. Da kommen mehrere Dinge mit ins Spiel: übrigens auch der Abrieb meiner Hand. Das kann ich tatsächlich nicht beeinflussen. Aber es geht für mich im Kern um eine sich wiederholende Arbeit; eine vertikale Linie wird an die andere gefügt, bis die Fläche geschlossen ist. Die Wiederholung und das blattfüllende Arbeiten werfen den Fokus auf die Verfahrensweise und auf die unterschiedlichen kontingenten Spuren.
JM: Ich hatte jedoch den Eindruck, dass du diese Verschmutzungen, diese Abweichungen, diese Störungen nicht nur als unvermeidbaren Nebenaspekt siehst, sondern als Momente mit eigenem Wert mit ins Spiel bringst, dass es bei dir so etwas gibt wie eine Lust an der Differenz. Wenn ich versuchte, jetzt als Betrachter (du hattest von der Produktion aus gesprochen), solch ein perfektes Blatt zu sehen, in dem die Linien alle sauber wären und es keine Differenzen gäbe, wäre das nicht besonders interessant. Die Methode allein besitzt keinen Wert an sich, sondern sie gewinnt ihren Wert genau aus der Spannung zwischen dem strengen Verfahren und diesem ganzen Kontingenten, den Abweichungen, die deutlich sichtbar sind und die verschiedene Levels haben: den Schmutz, die Veränderung der Farbintensität, die leichte Unsauberkeit der Linien …
KG: Ja, das ist die Arbeit mit der Differenz, die aus dem Ansatz entsteht, das Gleiche zu wiederholen, also etwas unglaublich Gleichartiges zu tun, was dann aber aus dieser Leere und Reduktion heraus eine große Fülle von differenten Ebenen schafft. Das ist ähnlich wie bei der Verschiebung einer Klangfarbe oder eines Tones, wo es um Nuancen geht. Im Grunde sind die Zeichnungen auch Abbilder von Zeit, es bildet sich eine zeitliche Spur des Sichtbaren.
JM: Wenn man jetzt übergeht von der Frage nach der Lust an der Differenz zu der bewussten Kopplung oder bewussten Zusammenstellung sehr unterschiedlicher Medien und ebenso unterschiedlicher Werktypen und Verfahrensweisen, stellt sich eine ganz ähnliche Frage. Wenn du vor allem in den neueren Installationen, von denen du vorher gesprochen hast, in denen Räume installiert werden, sowohl unterschiedlichste akustische Aufzeichnungen – auch bearbeitete akustische Aufzeichnungen – als auch unterschiedliche optische Aufzeichnungen verwendest, werden diese bearbeitet?
KG: Neben dem Schnitt und der Verwendung von O-Ton meiner Gesprächspartner verwende ich im Film fast ausschließlich stationäre Kameraeinstellungen in der Totalen; Material ist dann sehr dokumentarisch, fast sachlich. Es zeigt wenig Bewegung und Veränderungen, es findet also eher eine Reduktion und Verlangsamung des Geschehens statt.
JM: Wenn du auf die Weise die verschiedensten visuell und akustisch bearbeiteten Aufzeichnungen miteinander verknüpfst oder eher: in dieselbe Situation bringst, dann haben wir die Gleichzeitigkeit völlig unterschiedlicher Elemente. Diese Gleichzeitigkeit, dieses Zusammenspiel von Wiederholungen und Gleichzeitigkeiten erzeugt ein sehr spezifisches Problem der Kopplung und damit der Bedeutungsproduktion.
KG: Wenn ich von drei Arbeiten ausgehe, die stark filmbasiert sind wie »Baum stellen«, »singen kann jeder« oder »Bis zum Meere 2840 Kilometer«, dann sind das thematische Arbeiten, die eine gewisse narrative Darstellung erwarten lassen und jeweils für einen entsprechenden Ausstellungskontext entstanden sind. Es ist ja nicht mein Ziel, einen Betrachter oder Besucher zu enttäuschen, aber es ist in diesem Zusammenhang für mich nicht interessant, eine Reportage zu erstellen. Mir geht es darum, mit verschiedenen Wahrnehmungsebenen zu arbeiten und dabei akustische und visuelle Situationen zu schaffen, die von alltäglichen Bezügen ausgehen. Bedeutung entsteht durch ein vielschichtiges Geflecht, das einerseits die Realität abbildet und andererseits einen imaginativen Raum erzeugt, den der Betrachter durchaus ergänzen muss. Sprache setzte ich nur fragmentarisch ein; ich selbst als Fragender tauche da nicht auf, sondernallein die Aussagen der Personen. Das ist auch in den rein akustischen Arbeiten der Fall. Sprache wirkt immer semantisch und ist narrativ, kann sich aber auch als Klang entwickeln. Sie ist wie Geräusche und anderes akustisches Material Teil der Lautsphäre. Ich versuche, Bildinhalte immer wieder zu brechen. Und das passiert durch zusätzliche Verfahrensweisen, wie ich sie vorhin schon beschrieben hatte: Kann eigentlich ein Filmstream unterbrochen werden? Was entsteht durch die Wiederholung des Gleichen auf allen drei oder vier Bildschirmen? Wesentlich ist dabei die Frage, welche Zeit, welche räumliche Anordnung, welchen Mechanismus es braucht, das Akustische und das Visuelle jeweils selbstständig wahrzunehmen und trotzdem die Gesamtkomposition zu halten. Das ist die Haltung, mit der ich arbeite: auf das Reale zu verweisen, auf den Ort und den Betrachter, und das fragwürdige Primat des Visuellen in Frage zu stellen. Das Umschalten gelingt, wenn ich die Zeit gebe, das Akustische und Visuelle changieren zu lassen, wenn ein Hin- und Herwandern zwischen den Ebenen stattfinden kann.
JM: Ich habe den Eindruck, dass du in diesem Punkt deutlich Erbe von grundsätzlichen Verschiebungen oder Veränderungen im Begriff der Kunst und der Produktion bist, die in den frühen 1960er Jahren stattgefunden hatten. Zum einen zeigt sich bei dir sehr deutlich eine Veränderung der Fragestellung wie in der Minimal Music, wie vor allem bei Steve Reich, bei dem Phänomene wie Phasenverschiebungen auftreten, in denen es nicht mehr darum geht, eine neue Tonalität zu finden oder mit dem musikalischen Material neue Formen der Komposition zu entwickeln, und seien sie noch so seriell differenziert, sondern in denen ein anderer Typ von Aufmerksamkeit ins Spiel gebracht wird. Nämlich eine Aufmerksamkeit, die aktiv wird, eine aktive Rezeptivität, welche die Verschiebungen der entstehenden Verknüpfungen, der Patterns, und damit die Deutung von Wahrnehmungen beobachtet, vor allem bei rhythmischen Phänomenen: wie sie umschlagen, wie sie sich verschieben, wie sie ihr Umschlagen aufschieben oder beschleunigen. So wird ein anderer Typ von Aufmerksamkeit ins Spiel gebracht, der mit Gleichzeitigkeit und Rhythmik arbeitet, mit der Rhythmik von Schichtungen und Repetitionen, von Phasenverschiebungen und seriellen Abweichungen. Die andere Verschiebung ist auch in den frühen 1960er Jahren formuliert worden, etwa bei John Cage und Merce Cunningham: wenn Musik, Bühnenbild und Tanz nicht mehr zusammenhängen, also nicht hierarchisch einem Gesamtsystem untergeordnet sind, sondern unabhängig voneinander hergestellt worden sind und dann momentane Verbindungen eingehen, die nicht semantisch im engeren Sinne des Wortes, sondern viel eher suggestiv sind.
KG: Steve Reich habe ich gern gehört, aber das ist für mich am Ende doch eine sehr überschaubare Geschichte gewesen. Andere Ansätze standen mir näher, in denen beispielsweise die Leerstellen und der Bezug auf den Alltag – das ist ja kein didaktischer, sondern einfach ein erweiterter Ansatz – vorhanden sind und in einem Verhältnis zur Musik stehen wie in Cages’ 4:33. Schlussendlich hat er in dieser Arbeit doch eigentlich nur auf uns selbst verwiesen, auf den Körper. Das ist im übertragenen Sinne auch das Thema der Verantwortung des Rezipienten; das Werk ist gleich Verantwortung, wie Marcel Duchamp formulierte, es geht also um die Verbindung von Werk und aktivem Part des Betrachters. Da möchte ich historisch anknüpfen und auch Künstler wie Max Neuhaus nennen, der für mich ein Wegbereiter war in Bezug auf Klang und Öffentlichkeit, und in seiner Arbeit komplexe Vernetzungen mit dem Ort erarbeitete. Verschiedene partizipative Prinzipien sind mir wichtig. Und die Verknüpfung mit der Öffentlichkeit – also das, was Public Art meint – erzeugt für mich eine enorme Reibung in meiner künstlerischen Auffassung.
JM: Für die radikalsten Positionen im Minimal und Postminimal in diesem Bereich, in Musik und Tanz, vor allem im Minimal Dance, hat sich sehr deutlich herausgestellt, dass es vor allem um Wahrnehmungsbildung und Bewusstseinsbildung ging. Dass also der ideale Besucher oder Betrachter oder Zuhörer der wäre, der, ohne dass ihm noch etwas von einem Künstler angeboten werden müsste, im Alltag eine komplexe Wahrnehmung der Gleichzeitigkeit der Phänomene und ihrer Einzigartigkeit, ihrer Kontingenz und ihrer Rhythmik zustande bringen würde. Wäre das etwas, was du in deiner Arbeit implizieren würdest?
KG: Ja, in diese Richtung geht das. Für mich kann ich das auch gar nicht trennen. Dasjenige, was ich in der künstlerischen Praxis realisiere, ist natürlich mein Standpunkt, aber die Werke sind ja autonom, und ich überlasse sie auch sich selber. Ich entwickle keinen Anspruch auf bestimmte Wirkungen. Es ist mehr der Impuls, auf eine Art Politik des Lebens hinzuweisen. Dabei heißt Politik für mich nicht, dass ich ein politisches Instrument zur Steuerung der Gesellschaft schaffe, aber ich lege eine Position offen, und dabei geht es um Praktiken und Haltungen im Künstlerischen wie im Gesellschaftlichen. Ich bin immer sehr lange vor Ort präsent, bevor die Arbeit ihre abgeschlossene Form hat, und hinterlasse danach natürlich eine veränderte Situation. Diese Präsenz ist eine andere als diejenige, die ich früher als Musiker kennengelernt habe. Installationen stellen keine Bühnensituation dar. Der Besucher kommt in die Situation hinein, wie er es im Alltag auch tun würde, wie wenn er in den Supermarkt geht und da auf eine andere akustische Sphäre trifft als noch eben zuvor auf der Straße. Meine Filme funktionieren als Montage und nicht als chronologischer Ablauf, es wird kein Anfang oder Ende aufgezeigt; du kannst überall einsteigen und überall aussteigen. Es ist ein offenes Feld, das die akustische Realität als Teil der Komposition mitdenkt. Wenn ich vorher meine Aufzeichnungen mache, dann sind verschiedene Realitäten erfasst, andere ergänzen sich von selbst. Ich selbst bin dann kein Aufführender mehr. Das ist dann sich selbst überlassen. Einen Ort möchte ich als einen »offenen« Ort verlassen, wenn ich die Arbeit gemacht habe. Das heißt, ich möchte ihn nicht dominieren, ihn offen für weitere Einflüsse belassen, auch in dem Sinne, dass ich ihm Akustisches nicht überstülpe, beispielsweise durch Lautstärke.
JM: Diese Verfahrensweise ist ja auch ästhetisch im ursprünglichsten Sinn: Ästhetik nicht nur als Wahrnehmung, sondern als Bewusstwerdung und Bewusstmachung von Wahrnehmung. Der ästhetische Bereich ist der Bereich, in dem es nicht um Bedeutung geht, sondern darum, Wahrnehmung selber wahrnehmbar zu machen. Den Betrachtenden oder Hörenden dazu zu bringen, sein eigenes Hören und Betrachten wahrzunehmen, das heißt, bewusst werden zu lassen und reflektierbar zu machen.
KG: Da gibt es von Rudolf Arnheim ein Zitat, demzufolge erst die Leerstelle ermöglicht, dass das Gegenwärtige seinen Platz findet und das Abwesende in die Wahrnehmung aufgenommen wird. Es ist sehr schön formuliert. Mit meinen akustischen Arbeiten bewege ich mich an dieser Schnittstelle. Du hast die 1960er Jahre angesprochen; es gibt da einfach eine gewisse Verbindung zwischen dem künstlerischen Werk und der Lebensrealität. Insbesondere im Akustischen ist das beeindruckend, wie das Imaginäre in das Reale diffundiert, wie das ineinander spielt und sich sogar möglicherweise gegenseitig aufheben oder auslöschen kann. Ich habe das das erste Mal 2002 im Württembergischen Kunstverein in Stuttgart erlebt mit meiner Arbeit »sprechen«, die ich damals mit Kurt App realisiert habe. Wir verwendeten u.a. das akustische Archiv des Kunstvereins, also Kassetten- und Videoaufzeichnungen, um eine akustische Arbeit zur Historie des Kunstvereins zu erarbeiten. Da waren zum Beispiel auch Eröffnungsveranstaltungen enthalten. Und dieses Material haben wir in bearbeiteter Form über sechs Lautsprecher offen in den Raum eingespielt. Und dann fand die tatsächliche Eröffnung statt und unsere Arbeit war phasenweise wie erloschen. Auch später war das immer wieder der Fall, dass sich die Ausstellungsrealität mit der Einspielung akustisch gedoppelt hat. Die Doppelung des akustischen Materials führte tatsächlich zu einer Löschung und einer ununterscheidbaren Überlagerung des quasi identischen Materials.
aus: Kunstverein Nürtingen (Hg.): Kristof Georgen, DRITTENS: Fotografie, Zeichnung, Film und Sound 2009 – 2012, Katalog, Nürtingen und Stuttgart 2012.