Aus der strengen repetitiven Verfahrensweise der monochromen Blätter entspringen jedoch Verschiebungen oder Abweichungen der Farbe und der Strichstärke, die selbst methodisch und geregelt sind.
Denn die Stifte verlieren einerseits relativ schnell an Farbintensität, da die Farbe mit dem Gebrauch immer langsamer nachfließt, andererseits verbreitert sich die Spitze des Filzstifts und mit ihr die Strichstärke durch Gebrauch und Abnützung. Zu diesen beiden Parametern, der Farbintensität und der Strichbreite, treten zwei weitere Parameter der Zeit: die Abhängigkeit der Farbintensität von der Geschwindigkeit, mit der der Strich gezogen wird, und von der Zeitdauer, die dem Stift zur `Erholung´ gegeben wird, während der er zur Seite gelegt wird. In der Abfolge der Striche in der Fläche lässt sich also, vor allem durch Veränderungen der Farbintensität, feststellen, wo neue Stifte eingesetzt wurden (ganz neue oder welche, die sich `erholt´ haben). Die willkürlichen Entscheidungen des Künstlers, wie lange er einen Stift benutzt, wann er einen neuen Stift einsetzt, und ob er einen neuen oder einen `erholten´ Stift einsetzt, schaffen also in der strengen Ordnung der Striche eine erste, lesbare und verstehbare Abweichung oder Verschiebung. Der Rhythmus der Abwechslung der Stifte gehorcht der Willkür.
Ebenso aus der Verfahrensweise selbst heraus, ihr entsprechend und regelgerecht, aber unkontrollierbar, entsteht eine zweite Abweichung oder `Unsauberkeit´ – weniger eine Abweichung als ein unkontrollierbarer Effekt der Kontingenz der Verfahrensweise, eine Art von optischem Rauschen. Durch das schnelle Ziehen von Linien mit dem Lineal, welches mit der Hand von Linie zu Linie um minimale Strecken verschoben wird, sind die Abstände der Linien nicht identisch, sondern schwanken deutlich, sie sind `unsauber´. Auch zeigt sich, dass häufig ganze Gruppen von Linien etwas enger oder etwas weiter stehen, dass also dieses Schwanken sich nicht primär von Linie zu Linie wieder verändert, sondern eher von Linienbündel zu Linienbündel. Auf diese Weise, durch Verdichtungen und Ausdünnungen der Bündel, bilden sich eine Art von Wellen, von Höhen und Tiefen, von Bergen und Tälern, die ihrerseits nicht geordnet sind, auch keiner Wellenbewegung gehorchen, sondern völlig kontingent entstehen. Der Rhythmus der räumlichen Abfolge der Linien gehorcht keiner Regel und keinem Willen, sondern entsteht völlig kontingent. Noch weiter in der Kontingenz – und damit auch im `Schmutzwerden´ – geht eine dritte Abweichung: hier handelt es sich um explizite Störungen, die unvermeidbarerweise aus den eingesetzten Materialien und Mitteln entsteht, um eine Art Kanalrauschen. Die Striche, die vertikal und parallel über die Papierfläche laufen, zeigen immer wieder leichte Störungen, Unsauberkeiten der perfekten Senkrechten: einerseits dort, wo das Lineal leicht beschädigt, etwa ausgeschlagen ist und deswegen die Linie Zacken zeigt, oder dort, wo das Papier nicht völlig glatt ist, sondern durch kontingente Verdickungen oder Einlagerungen den Verlauf der Linie stört, springen lässt oder zum Ausweichen zwingt. Zumindest die kontingente Beschädigung des Lineals läuft ihrerseits, da das Lineal immer in ungefähr derselben Höhe gehalten wird und die Beschädigung, der Zacken bei jeder einzelnen Linie etwa auf derselben Höhe liegt, als eine sich wiederholende Störung, als eine unsauber waagerechte `Linie´ der Abweichung durch die ganze Fläche hindurch. Der Rhythmus der sich wiederholenden Störung der Linien entsteht aus der Kontingenz der eingesetzten Mittel. Eine vierte Störung oder eher Unsauberkeit – eine explizite Verschmutzung – verdankt sich einer weiteren Kontingenz, die keinerlei Rhythmus mehr gehorcht, keinen Rhythmus mehr hervorbringt: in der Fläche, auf dem Papier zeigen sich auch leichte Spuren der Hand als Unsauberkeit, leichte Fettablagerungen oder Schweißspuren, welche die Farbe und die Oberflächentextur verändern und beeinträchtigen. Diese Verschmutzung wird durch den menschlichen Körper und seine wesentliche organische Unsauberkeit verschuldet; sie verweist auf eine völlig unbeherrschbare, furchteinflößende Kontingenz, die Kontingenz des Lebens und des Leibes.
Aber auch die Serie der Abweichungen, Störungen und Verschmutzungen ist ihrerseits geregelt: alle Störungen oder Abweichungen, die nicht zu dieser Serie gehören, werden ausgemustert, werden nicht mehr als Zeichnung zugelassen. Wenn beispielsweise das Lineal verrutscht und eine Linie nicht mehr parallel zu den anderen verläuft, sondern sie diagonal überschneidet oder kreuzt, wird dieses Blatt ausgesondert. Die Serie der systematischen Kontingenzen und der durch sie entstehenden Rhythmen ist ihrerseits streng geregelt.
II.
Die serielle Reihung der Linien auf dem Papier – und, schwächer, die Serie der Zeichnungen – legt nahe, als Partitur wahrgenommen zu werden, die auf zwei verschiedene Weisen gelesen werden kann: als rhythmische Anordnung von Linien in der Fläche, oder als Spur beziehungsweise Notation von rhythmischen Einschreibungen. Überraschenderweise, aber auch völlig selbstverständlich wird die serielle Reihung von Linien nicht oder kaum statisch, als bloße farbige Fläche wahrgenommen, sondern von vornherein als Bewegung, als ein Fortschreiten in waagerechter Richtung oder in der Zeit. Dieses Fortschreiten in der Fläche und damit auch in der Zeit aber wirft sofort die Frage nach seiner Ordnung oder Regel auf. Und offensichtlich gehorcht dieses Fortschreiten nicht einem vorgegebenen zeitlichen oder räumlichen Gesetz, einem vorweg festgelegten Taktschlag oder einem geregelten Abstand, sondern es ereignet sich immer wieder neu von Linie zu Linie, Schritt für Schritt, in einem Rhythmus, der sich selbst dauernd neu hervorbringt, der stottert und sich überstürzt, der sich beschleunigt und verlangsamt, der momentan aussetzt und sich wieder einholt. Jeder Strich fügt den bisherigen einen neuen hinzu, ohne dass schon vorweg festgelegt wäre, in welchem Abstand und in welchem Takt er gezogen werden muss: der Rhythmus dieses Fortschreitens kennt keine übergeordnete Regel und keine vorgegebene Zeit- oder Flächenordnung; er kennt überhaupt keine Hierarchie, sondern nur die offene, unvorhersehbare Bewegung seines aktualen und situativen Sich-Ereignens. An die Stelle einer Architektur oder einer Tektonik einer vorgegebenen Struktur mit festgelegten Abständen – oder in der Zeit eines Zeitmaßes, eines Taktes, einer Maßeinheit – tritt das Spiel der Wiederholung. Dieses Spiel der Wiederholung bringt in der Fläche (und in der Zeit) immer neue Zwischenräume hervor, die den Raum, die Fläche oder den Zeitpfeil überhaupt erst konstituieren. Diese Zwischenräume sind selbst differentiell, wiederholen sich nicht identisch, sondern bringen im Fortschreiten immer neue Differenzen hervor.