I. Auf den ersten Blick – oder das erste Hören – gibt es eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen der scheinbar einfachen akustischen Erscheinungsweise der Soundarbeiten von Kristof Georgen und ihrer Komplexität, die deutlich wird, sobald der Hörer den Versuch unternimmt, sich mit sich selbst darüber zu verständigen, was er hört – und, noch wichtiger, wie er hört. In einem ersten Hören haben die Zuhörer es mit einer Vielzahl von Tönen, Klängen und Geräuschen zu tun, die innerhalb einer auch räumlich festgelegten Situation erklingen und ihrerseits wieder Raum hörbar machen. Eine akustische Installation, eine Konstellation von verdeckten oder sichtbaren Lautsprechern und von Geräuschquellen im realen Raum, erschafft, indem sie Geräusche hörbar macht, die gedeutet, die identifiziert werden können – da ihre verursachenden, materiellen Quellen mit wahrgenommen oder, präziser, imaginiert werden –, einen imaginären, durch die imaginierten Quellen der Geräusche und deren Widerhall determinierten Raum, der sich über den realen Raum mit seinen Geräuschen und seinem Hall legt; oder, in den meisten Fällen, sich mit ihm auf eine nicht mehr durchschaubare – oder durchhörbare – Weise vermischt. Gleichzeitig aber bringt sie durch Töne und Klänge explizit musikalische Hörweisen mit einem ganz anderen Typ von Hörraum ins Spiel.
Diese gegenseitige Durchdringung von realen Geräuschen im realen Raum und aufgezeichneten und bearbeiteten oder künstlich produzierten Geräuschen und Klängen mit ihrem eigenen Raum scheint sich zuerst einmal in die Tradition der Ausweitung des Begriffs oder eher der Gattung ›Musik‹ zu stellen, die wir vor allem John Cage verdanken und die für die spätere, allgemein bekannte Ausweitung der Begriffe und Gattungen ›Malerei‹ und ›Skulptur‹, aber auch ›Konzert‹ und ›Theateraufführung‹ (oder, englisch, ›Performance‹) in den sechziger Jahren beispielgebend war. Tatsächlich hatte das Aufsprengen der musikalischen Komposition durch das Eindringen des Zufalls, verschieden radikaler Typen des Zufalls, in die Situation der musikalischen Aufführung früher stattgefunden als Analoges in den Bildenden Künsten und hatte vergleichbare Prozesse in ihnen angeregt; es ist kein Zufall, dass fast alle wichtigen Künstler der neuen performativen Bewegungen Fluxus und Happening in den späten fünfziger und den frühen sechziger Jahren neue Konzepte und Vorstellungen von Kunstwerk und Material direkt von John Cage übernommen hatten.
Unter den verschiedenen Schritten, die John Cage unternahm, um Zufall in die Komposition oder in die Musik mit hineinzunehmen – zu denen das präparierte Klavier gehörte, die Zufallskomposition, der Gebrauch unkontrollierbarer Geräuschquellen wie etwa des Radios, die Willkür oder Freiheit des Interpreten, die Unbestimmtheit bezüglich der Ausführung – wurde der letzte und radikalste in der Komposition 4'33" verwirklicht, die am 29. August 1952 in der Maverick Concert Hall in Woodstock, New York, uraufgeführt wurde. Der Interpret, David Tudor, realisierte diese Komposition, ein »Tacet für jedes beliebige Instrument oder jede beliebige Kombination von Instrumenten«1, indem er drei Sätze lang nicht spielte oder eher nichts spielte – denn alle situativen und kontextuellen Bedingungen eines Klavierkonzerts waren gegeben: das Publikum mit seinen Erwartungen, der Rahmen eines Konzerts, der Interpret, auf den sich alle Augen richteten, der geöffnete Flügel auf der Bühne. Und tatsächlich spielte David Tudor: er spielte in dem Sinne, wie ein Schauspieler einen Klavierspieler spielt, aber er spielte nicht Klavier.
4'33", ein Werk, in dem keinerlei Musik vom Vortragenden erzeugt wird, in dem anstatt komponierter Musik nur Stille hörbar wird, ist radikal darin, dass die Ausweitung des Konzepts und Begriffs von Musik hier vollendet wurde: an die Stelle des erwarteten, von einem Autor geschaffenen, einem musikalischen System zugehörigen Musikstücks treten die vielen kleinen, sinnlosen, unzusammenhängenden Mikrogeräusche der realen Situation, die nicht komponiert wurden, weder mit Sinn noch mit Subjektivität oder Ausdruck verbunden sind, die deswegen auch weder vorhersehbar noch wiederholbar sind; an die Stelle von akustischen Kunstwerken, die in einer eigenen ästhetischen Zeit (der Zeit der Aufführung) stattfinden, die durch die Arbeit eines Autors eine festliegende, komponierte ästhetische Totalität bilden und die jenseits des realen Raums und der realen Zeit in einer ästhetischen ›Hinterwelt‹ wahrgenommen werden (die zur mentalen Welt des Geistes oder des Bewusstseins gehört), tritt in der ›Stille‹ die reale Situation, in der permanent und ohne Verbindung miteinander materielle akustische Ereignisse (fast immer Mikroereignisse) stattfinden. Diese sprechen nicht, bedeuten nichts, drücken nichts aus, sondern geschehen nur plötzlich und zusammenhanglos, also kontingent. Sie haben nichts mit der Welt des Geistes oder des Bewusstseins zu tun, der Welt der Subjektivität, der Bedeutungen und des Sinns, sondern verweigern sich völlig jedem Sinn.
John Cage selbst verstand, wie das auch die meisten Musiker tun, seine Arbeit als Ausweitung des musikalischen Materials und des Begriffs von Musik. Wie etwas später in der Kunst, wenn von einem erweiterten Kunstbegriff (etwa bei Beuys) die Rede war, implizierte dieses Konzept der Ausweitung oder Erweiterung, dass das grundlegende Verständnis von Kunstwerk und Kunst nicht in Frage gestellt war, sondern sich durch die Verbreiterung nur veränderte und andere Bereiche, die vorher nicht kunstfähig oder kunstwürdig waren, jetzt mit einschloss. Für Cage scheint es also, wie schon in den Überlegungen von Luigi Russolo in Die Geräuschkunst, 1913, erstmalig formuliert, einen graduellen Übergang von den Tönen und Klängen zu den Geräuschen zu geben, so dass sich das musikalische Material zwar ausweitet, aber nicht sich grundsätzlich verändert oder gar zusammenbricht: »Wir wollen diese so verschiedenen Geräusche aufeinander abstimmen und harmonisch anordnen. (…) Das Geräusch unterscheidet sich nämlich vom Ton nur dadurch, daß die Vibrationen, die es hervorrufen, sowohl im Takt wie in der Stärke verworren und unregelmäßig sind. Jedes Geräusch hat einen Ton, manchmal auch einen Akkord, der in der Gesamtheit seiner unregelmäßigen Vibrationen vorherrscht. Dieser vorherrschende, charakteristische Ton macht es praktisch möglich, ein gegebenes Geräusch abzustimmen.«2 Selbst wenn Cage die Bindung der Geräusche an Töne und Klänge noch weiter lockerte, so gehörten Geräusche für ihn immer noch in eine erweiterte Sphäre der Musik.
Diejenigen von Cages Schülern aber, die etwas später die Fluxusbewegung in Gang brachten, sahen deutlich – ebenso wie eine Reihe von anderen Künstlern, unter denen Andy Warhol herausragt –, dass spätestens mit dem Stück 4'33" das traditionelle, für die Moderne verbindliche Verständnis von Kunstwerk zusammengebrochen war. Kunstwerke sind, nach diesem Verständnis, von Autoren geschaffene, sprachartige Kompositionen aus rein visuellen oder rein akustischen Elementen, deren Fügung und Konstellation Sinn (zumindest ästhetischen Sinn) erschafft oder transportiert. Der Autor mit seinen Fähigkeiten der Authentizität, Originalität und Spontaneität artikuliert sich und seine Welt im Kunstwerk, das deswegen primär eine geistig-ästhetische Realität besitzt. Diese Ebene der Bedeutung und des ästhetischen Sinns benötigt zwar materielle Träger, doch werden diese Träger im Kunstwerk notwendig transzendiert. Jeder Ton oder Klang ist materiell gesehen ein durch einen Gegenstand hervorgebrachtes Geräusch, so wie jeder Farbton (colour) in einer malerischen Komposition materiell gesehen aus Farbmaterie (paint) besteht; doch geht diese Trägermaterie im hermeneutischen Prozess, im Verstehen und Deuten des Kunstwerks unter – so wie die akustische Materialität der Sprache im Verstehen der Bedeutungen untergeht und verschwindet.
4'33" aber erlaubt kein solches Hören, kein ästhetisch-semantisches Hören mehr. Hier gibt es keine Autorschaft mehr, keine Komposition, kein ästhetisches System mit seinen Elementen und seiner Grammatik, keine Bedeutung und keinen Ausdruck: es gibt nur noch die subjektlosen und bedeutungslosen kontingenten Geräuschereignisse, die ohne Sinn faktisch existieren. Diese erfordern ein neues Hören, das erst durch einen Bruch mit dem ästhetischen Hören möglich wird. Denn die kontingenten Geräuschereignisse in der realen Situation werden im ästhetischen Hören, etwa in einem Konzert, aktiv ausgeblendet. Die Unterscheidung zwischen den intentionalen, komponierten Tönen und Klängen und den kontingenten Umgebungsgeräuschen ist eine der Grundlagen der Unterscheidung von materieller und ästhetischer Welt, die beide völlig unterschiedliche Einstellungen fordern und voraussetzen.
Damit die vorher ausgeblendeten Geräusche eigenständig wahrnehmbar werden, muss zuerst die idealistisch-ästhetische Einstellung aufgegeben werden und dann eine neue, in einem ganz anderen, materialistischen Sinne ›ästhetische‹ Einstellung aufgebaut werden. Der Bruch mit dem kompositionellen musikalischen Hören lässt sich als Enttäuschung beschreiben: der Hörer muss seine Erwartungen aufgeben, vor allem die Erwartung daran, dass sich ihm ein anderes Subjekt, der Komponist, zu erkennen und zu verstehen gibt; der Hörer muss die geistig-ästhetische Welt ersatzlos verlassen. Das ist auch ein Verlust. Die Enttäuschung über diesen Verlust ermöglicht in einem zweiten Schritt die Bewusstwerdung über das tatsächlich Hörbare, die kontingenten, sinnlosen Geräusche, die nichts mehr kommunizieren oder ausdrücken, aber eigenständig wahrgenommen werden können: die Enttäuschung befreit von der Täuschung des Sinns.
Andy Warhol hat einen vergleichbaren Prozess, den die Zuschauer seiner frühen Filme durchzumachen gezwungen werden, mit dem Begriff ›Langeweile‹ zu fassen versucht. Der Zuschauer, dem nichts von dem geboten wird, was er aus prinzipiellen Gründen erwartet, keine Erzählung, keine Dramatik, keine Subjektivität, keine Zusammenhänge – etwa, wenn er stundenlang einen Schlafenden betrachtet oder das Empire State Building –, verfällt der Langeweile; diese Langeweile kann in einem mehrstufigen reflexiven Prozess dazu führen, dass der Zuschauer wahrzunehmen beginnt, dass er die ganze Zeit ja zu sehen bekommt: allerdings nur mehr Realität (seine Nachbarn, den Kinosaal, die Kratzer auf der Leinwand, die Verteilung der Schatten auf der Leinwand) oder aufgezeichnete, unbearbeitete Realität.
»My first films using the stationary objects were also made to help the audiences get more acquainted with themselves. Usually, when you go to the movies, you sit in a fantasy world, but when you see something that disturbs you, you get involved with the people next to you. (…) You could do more things watching my movies than with other kinds of movies; you could eat and drink and smoke and cough and look away and then look back and they’d still be there. It’s not the ideal movie, it’s just my kind of movie.«3
Wenn Kristof Georgen also in seinen Soundinstallationen Musik (Klänge und Töne), Stimmen (als Träger von Sprache und als musikalische Träger) und aufgezeichnete oder elektronisch hergestellte Geräusche ineinander verwebt und einander überlagern lässt, erzeugt er vielschichtige akustische Konstellationen, die den Hörer dazubringen, unterschiedliche Einstellungen gleichzeitig wahrzunehmen. Das aber erfordert eine konzentrierte Wachheit, die die Brüche zwischen den Einstellungen, vor allem zwischen der ästhetischen und der semantischen Einstellung auf der einen Seite, der funktionalen oder gegenständlichen auf der anderen Seite wahrnimmt und austrägt. Die verschiedenen akustischen Ebenen und Einstellungen sollen sich nicht undeutlich vermengen, sondern präzise gehört werden, indem sie deutlich unterschieden und im Rahmen ihrer eigenen Gesetzmäßigkeiten erfasst werden.
II. Die Soundarbeiten von Kristof Georgen spielen vor allem mit der Verschränkung der verschiedenen Einstellungen zu akustischen Phänomenen und den sehr unterschiedlichen Typen von Raum, die diese – real oder imaginär – hörbar machen. Dabei bilden die beiden klassischen Einstellungen gegenüber der akustischen Wahrnehmung (die funktionale und die ästhetische) Pole, deren explizite oder zumindest implizite Anwesenheit in jeder künstlerischen Arbeit Kristof Georgens wichtig ist: die Wahrnehmung von akustischen Phänomenen als Musik, als akustisches Kunstwerk, hört Töne und Klänge innerhalb eines Systems (normalerweise des tonalen Systems im weiten Sinne des Wortes) als Konstellation von rein akustischen Elementen, deren Komposition eine artikulierte Sinneinheit, das Kunstwerk, ergibt. Die Wahrnehmung von Stimme als verbaler Sprache hört Stimme als Träger von Semantik innerhalb eines Systems von Elementen, der Wörter, die Bestandteile der symbolischen Ordnung oder Struktur der Sprache sind. Die ästhetische Einstellung und die semantische Einstellung sind verwandt und gehören beide dem Bereich des Bewusstseins oder der Bedeutung zu; beide erschaffen auf verwandte Weise einen mentalen, immateriellen und dimensionslosen Raum des Verstehens und der Rezeption, der sich dem materiellen Raum entgegensetzt und in diesem nicht verortet werden kann – er wird meist als ortlose, allgegenwärtige Präsenz (des Sinns) wahrgenommen.
Diesen eng verwandten idealistischen Einstellungen stellt sich die funktionale Einstellung entgegen, die Geräusche auffasst: Geräusche werden nicht als Elemente einer Struktur gehört, als Träger von Sinn im Rahmen der Einheit eines Werkes oder einer Aussage, sondern als reale Ereignisse im realen Raum und im realen Zeitfluss. Geräusche werden also von vornherein nicht auf andere Geräusche bezogen, so wie Töne oder Klänge in Bezug auf andere Töne oder Klänge gehört werden, sondern werden als isolierte, kontingente und unzusammenhängende Ereignisse daraufhin befragt, wo sie stattfinden und wodurch sie hervorgerufen werden. Geräusche richten die Wahrnehmung auf ihren Ort und auf ihre materielle Quelle hin aus; Geräusche sprechen nicht, geben nicht zu hören, sondern existieren als reale Gegebenheiten und werden identifiziert.
Damit aber, dass Geräusche als Realitäten im realen Raum wahrgenommen werden, machen sie den Raum auch hörbar: die akustische Orientierung im Raum verortet Geräusche im Raum und ermöglicht es so, den Raum mental zu rekonstruieren (wie das zum Beispiel nötig ist, wenn das Sehen, etwa wegen Dunkelheit, ausfällt). Die Ausbreitung und die Reflexion, der Widerhall der Geräusche im Raum erschafft ein akustisches Abbild des Raums. Das funktioniert auch, wenn aufgezeichnete Geräusche wiedergegeben werden: auch sie erzeugen die Illusion eines realen Raums. Die Geräusche einer realen Raumsituation und die aufgezeichneten Geräusche überlagern einander dabei nicht deutlich unterscheidbar, sondern durchdringen einander bis hin zur Ununterscheidbarkeit.
Diese ununterscheidbare Durchdringung hat mehrere Gründe. Ein wichtiger Grund ist, dass die Unterscheidung zwischen dem Realen und dem Illusionären, zwischen der Wahrnehmung und der Imagination, die im Visuellen völlig eindeutig ist, im Akustischen nur sehr beschränkt funktioniert: im Visuellen sind Bildraum und realer Raum eindeutig voneinander getrennt durch die völlig unterschiedliche optische Verfassung beider (die Bildfläche, die den illusionären Raum als Effekt hervorbringt, und der reale, dreidimensionale Raum, in dem sich der Betrachter als Körper selbst mit aufhält); zusätzlich sind beide meist durch eine Markierung des Randes und damit der Trennung unterschieden, dem Rahmen, der die Bildfläche umgibt und von der Umgebung abtrennt. Der Betrachter versteht sich im Visuellen als Herr der Situation, der seinen Blick frei ausrichtet und auswählt, was er betrachtet; deswegen nimmt er dem Erblickten gegenüber die Position des Akteurs, des aktiv Wollenden ein. Im Akustischen ist die Identifikation von Geräuschen und von Raum immer mit der Vorstellung (oder der Imagination) der verursachenden Quelle und des widerhallenden Raums verknüpft, unabhängig von der Frage, ob es sich um reale oder technisch reproduzierte Geräusche handelt; die Wahrnehmung der Quellen von Geräuschen ist, insoweit deren Identifikation wesentlich optisch erfolgt, schon imaginär. Dazu kommt, dass eine Unterscheidung zwischen dem Illusionären der Wiedergabe und dem Realen der Wahrnehmung im akustischen Raum nicht stabil und ortbar möglich ist: dem Raum ist nicht anzumerken, ob reale Geräusche oder wiedergegebene Geräusche ertönen (wenn nicht die technischen Quellen von reproduzierten Geräuschen, die Lautsprecher, besonders betont oder markiert werden). Der akustischen Welt ist das hörende Subjekt viel stärker ausgeliefert als das blickende Subjekt der optischen; es muss diese Welt von Geräuschen und deren Widerhall ausgehend imaginieren und konstruieren, in einer wahrnehmbaren Nachträglichkeit oder Passivität gegenüber den Geräuschereignissen, während sich das blickende Subjekt als agierenden Herrn seiner Blicke und der Tätigkeit des Blickens wahrnimmt.
Daraus ergibt sich auch, dass Töne und Worte auf der einen Seite, Geräusche auf der anderen Seite nicht nur völlig unterschiedlich identifiziert, sondern auch erinnert werden. Töne, dem sprachähnlichen System Tonalität zugehörig, und Worte, dem System Sprache zugehörig, werden wahrgenommen, indem sie mit den anderen Elementen ihres Systems in Bezug gesetzt werden und aus diesem Spiel der Differenzen Bedeutung gewinnen; sie geben sich also in der Aktualität von Bedeutung zu hören. Geräusche dagegen, bloße Ereignisse, sind nur existent, ohne Bedeutung. Deswegen ist ihre Identifikation an Gedächtnis (und in spezifischen Fällen an Erinnerung) gebunden; sie werden in ihrer Realität, als konkrete, besondere, primär sensuelle und erst sekundär materielle Gegebenheiten wiedererkannt. Erst durch das sensuelle Wiedererkennen können sie sich mit der Vorstellung und dem Begriff eines Gegenstandes, ihrer Quelle, verbinden.
Die Analogie mit dem Bereich des Sichtbaren offenbart eine interessante Asymmetrie: im Visuellen lässt sich die sensuelle Realität des Lichts oder der Reflexion des Lichts im Normalfall nicht eigenständig wahrnehmen; die Identifikation des wahrgenommenen Objekts geschieht innerhalb des Wahrnehmungsakts selbst, subsumiert das Wahrgenommene der sprachlich determinierten Erfassung. Nur dort, wo das Sichtbare vom Körperlichen ganz abgelöst wird, in der Farbe oder sogar der Blendung durch das Licht, wird eine sensuelle Realität des Visuellen unabhängig von der Identifikation von Körpern erfahrbar.
Kristof Georgen treibt in seinen Soundinstallationen die Unentscheidbarkeit zwischen realen Geräuschen (oder auch Klängen und Wörtern) und reproduzierten oder produzierten Geräuschen, Klängen und Wörtern so weit wie überhaupt möglich; er treibt sie an jene Grenze, an der der Hörer von einer produktiven Verwirrung ergriffen wird, die ihn dazu bringt, seine eigene akustische Rezeption und deren Funktionsweisen zu beobachten und zu reflektieren. Ein entscheidendes Mittel zur Provokation solcher Verwirrung ist, dass der Künstler oft die realen Geräusche einer vorgefundenen Situation, eines vorgefundenen Raums aufzeichnet und bearbeitet und dann in diese Situation, in diesen Raum zurücktönen lässt: so dass sich die realen und die eingespielten Geräusche, Klänge und Wörter nur wenig unterscheiden und ein Spiel der undurchschaubaren akustischen Spiegelungen, der Echos und der Wiederholungen erzeugen, das sowohl die Aktualität des Gehörten wie die Realität des Geräuschraums gleichzeitig vervielfältigt (oder eher vervielfacht) und in Frage stellt. Der fiktive akustische Raum legt sich über den realen Raum, mischt sich mit ihm, ohne ihn zu verdecken oder gar zu verdrängen: der gehörte Raum verändert sich, weitet sich aus (weswegen viele Hörer die Neigung spüren, die Augen zu schließen: der Hörraum tritt zunehmend in Widerspruch zum gese101 henen realen Raum). Erst in den Momenten der Stille, in denen das Klangwerk schweigt, stürzt der Hörer zurück in den sichtbaren Raum, der dann plötzlich eng und karg erscheint.
In den Klanginstallationen von Kristof Georgen wird die Spannung zwischen zwei weit auseinanderliegenden Polen immer wieder neu aufgebaut und artikuliert; die Spannung zwischen einem reflexiven Pol, der durch das Spiel der Widersprüche der verschiedenen Einstellungen und Raumwahrnehmungen den Hörer zur Selbstbeobachtung im Prozess des Hörens und zur Reflexion dieser Widersprüche bringt, und einem konkreten, dokumentarischen Pol, dem Pol der Aufzeichnung von Geräuschen, vor allem von situativen, vor Ort aufgezeichneten Geräuschen (wie in Zirkulation (Jugendtraum), 2008, oder Leerstand, 2007), sowie der Aufzeichnung von Gesprächen (wie in sprechen, 2002, oder Der Klang der Wirklichkeit, 2008) und Gesängen (singen 49.03º / 8.24º, 2003). Dabei wird das aufgezeichnete Material selten direkt, unbearbeitet wiedergegeben; auch in dieses ›reale‹ Material greift der Künstler ein, arbeitet es um, verdichtet und schichtet es, teilweise bis zur Zerrüttung der Verstehbarkeit oder Hörbarkeit.
Die eingesetzten Verfahrensweisen sind mit Verfahrensweisen einerseits des Films, andererseits des Hörspiels eng verwandt. Aus dem Bereich des Schnitts kommen die heute auch in der Musik (seit der Minimal Music) weitverbreiteten Techniken des Ausschneidens, des Isolierens von Fragmenten, die in einem zweiten Schritt durch Wiederholung zu Elementen einer sekundären, abgeleiteten musikalischen Struktur werden können. Die von den erst analogen, dann digitalen Medien abhängige Arbeit mit Loops, später mit elektronischem Sampling ermöglicht die Erzeugung flüchtiger, momentaner Ausschnitte, die nicht kompositorisch im traditionellen Sinne gedacht werden, sondern neue Kriterien erfordern und einführen: denn mit dem Schnitt werden kontingente Ausschnitte aus akustischen Abläufen zu flüchtigen, situativen und momentanen Einheiten, mit denen dann gearbeitet wird. Zum Schnitt gehören auch Techniken der Überlagerung, des Aus- und Einblendens, der Montage im weitesten Sinn. Der Eingriff in den Träger (bei den analogen Medien) erlaubt auch, das Rauschen des Trägers selbst (etwa einer Schallplatte oder des unbelichteten Films) hör- oder sichtbar zu machen (die Stille oder das Schwarz).
Eher aus dem Bereich des Hörfilms kommen die Umgangsweisen mit dem Originalton: das Hörbarmachen der räumlichen Verhältnisse, des Halls und der spezifischen Geräusche der Situation und damit die Atmosphäre; vor allem aber ermöglicht das akustische Material Schichtung und Überlagerung innerhalb desselben Wahrnehmungsraums – die Arbeit mit geschichteten, nacheinander und übereinander aufgezeichneten Phasenverschiebungen bei dem frühen Steve Reich etwa verbinden Verfahren des Schnitts und der Schichtung.
III. Die Verfahrensweisen von Kristof Georgen verstören aber nicht nur das Verhältnis von realem, situativen Klangraum, dem materiellen Raum des Hörers, und fiktivem, reproduzierten Klangraum, dem Raum, in dem und aus dem Geräusche aufgezeichnet worden sind und der durch die Wiedergabe im realen Raum diesen verändert, aufreißt und bearbeitet – eine Verstörung, die noch relativ naheliegt, da sich im Hören reale und reproduzierte Geräusche nicht oder fast nicht unterscheiden lassen –, sondern sie verstören auch die eindeutige Wahrnehmung des Hörbaren, die immer schon im Rahmen einer der definierenden Einstellungen stattfindet. Geräusche werden im Rahmen der funktionalen, gegenständlich identifizierenden Einstellung von ihrer materiellen Quelle her erfasst, die dem Geräusch seine materielle Identität verleiht; Töne und Klänge werden im Rahmen der musikalischen Einstellung, einer idealistisch-ästhetischen Einstellung, als Artikulation von ästhetischem und subjektivem Sinn vermittels der Struktur der Tonalität verstanden; und Wörter und Sätze werden innerhalb des Rahmens der Struktur der Sprache als symbolische Zeichenketten gedeutet und verstanden.
Die akustische Identifizierung von Geräuschen unterscheidet sich deutlich von der optischen Identifizierung von Gegenständen: sie ist wesentlich weniger individualisierend, sie erfasst die Geräuschquelle nur ziemlich allgemein, als generelle Gattung. Das hängt vor allem damit zusammen, dass die Geräuschquelle nur durch die Arbeit der Vorstellung zum Geräusch ›hinzugesehen‹ oder präziser: imaginiert wird; sie wird also nicht als deutlich von anderen Individuen derselben Gattung unterschieden erfasst, sondern bleibt allgemein. Umgekehrt jedoch ergibt sich daraus auch, dass Geräusche als sensuelle Phänomene erinnert werden können, fast unabhängig von der imaginierten Quelle und von deren Begriff. Es gibt also eine starke Beziehung des Geräusches zur Erinnerung (auch im starken Sinne des Wortes, im Sinne Sigmund Freuds, oder auch der Memoire involontaire Henri Bergsons) und eine nur schwache zur begrifflichen Identifikation – in diesem Sinne gehört das Hören (sobald es die starken Sprachen des Semantischen und des Musikalischen verlässt) zu den ganz und gar leiblichen Sinnen wie das Schmecken, das Riechen und das Tastgefühl. Geräusche verankern sich – im Gegensatz zu optischen Phänomenen – viel stärker im persönlichen Gedächtnis als im kulturellen Wissen, viel stärker in der Erinnerung als im Begriff.
Kristof Georgen stört nun in seinen Klanginstallationen systematisch die Identität oder Verstehbarkeit der eingesetzten akustischen Materialien. Zum einen destruiert er die Verstehbarkeit von sprachlichen Äußerungen oder zerrüttet die ästhetische Evidenz von musikalischen Konstellationen; noch wichtiger aber ist, dass er Geräusche so bearbeitet, so verfremdet, so sehr ihrer gegenständlichen Identität beraubt, dass sie von ihrer Quelle zunehmend abgetrennt, dass sie von der Funktion, Attribut eines sich in irgendeiner Weise bewegenden Gegenstandes zu sein, nahezu befreit werden.
Auch dafür kann die Analogie mit der visuellen Kunst Hinweise liefern. Mit dem Zusammenbruch der idealistischen Ästhetik um 1960 und damit der auf ästhetische und subjektive Bedeutung gehenden Kategorien der Autorschaft, des Kunstwerks und der ästhetischen Erfahrung entstand eine neue Kunst, die nicht mehr komponierte, nicht mehr eigene visuelle Sprachen schuf, mit deren Hilfe ein Autor sich artikulierte, sondern die reale Gegebenheiten aufzeichnete (Fotografie, Film, Video) oder – auch für die Aufzeichnung – inszenierte (Performance, Happening, Fluxus, Installation). Diese neuen Künste gehen nicht mehr von einer idealistisch-ästhetischen Einstellung aus (die sich auf ein sprachartiges ästhetisches System bezieht), sondern von der allgemein neuzeitlichen funktionalen Einstellung (die materielle Gegenstände, Körper, in der materiellen Welt identifiziert). Diese funktionale Einstellung aber verändert sich weitgehend, wenn sie nicht mehr die Identifikation von Körpern intendiert, sondern, ausgehend von den vielfältigen sensuellen Qualitäten der Körper oder Objekte, Welt konstatiert: wenn sie sichtbar macht, was alles existiert, was sich alles in der Realität finden lässt. In einem zweiten, noch radikaleren Schritt, werden nicht mehr Körper aufgelistet, wird nicht mehr das Existierende aufgezeichnet und archiviert, sondern werden die sensuellen, also vollständig qualitativen Differenzen des Sichtbaren erfahren und aktiv, lustvoll differenziert. Die Existenz der Körper in der quantitativen Welt einer vollständig homogenen, kontinuierlichen und messbaren Natur, einer vollständig erkennbaren, Naturgesetzen unterworfenen Natur, so wie sie die europäische Neuzeit konstruiert hat, wird nicht verleugnet oder auf eine geistige Welt (eine ›Hinterwelt‹) hin transzendiert, sondern die qualitative, sensuelle Differenzialität dieser Welt wird eigenständig wahrgenommen – was im Bereich der Düfte und Geschmacksnuancen eher vertraut ist als im Bereich visueller Differenzialität. Eine entsprechende materialistisch-ästhetische Einstellung kann auch Geräuschen gegenüber eingenommen werden. Dass Geräusche reale Phänomene der materiellen Welt sind, wird dabei nicht mehr verkannt oder transzendiert, sondern die komplexen sensuellen Qualitäten der Geräusche werden differenziert und affirmiert. Doch scheint es schwierig zu sein, Geräusche völlig von ihren Quellen abgetrennt wahrzunehmen – oder, entsprechend, Töne und Klänge beziehungsweise Wörter und Sätze abgetrennt von ihrem ästhetischen oder semantischen System: in jedem Geräusch wird normalerweise eine (und sei es fiktive) Quelle – oder mehrere mögliche Quellen – mitgehört, ebenso, wie es fast unmöglich ist, in einem Geräusch nicht einen Ton oder Klang mitzuhören. Als beispielsweise Eric Satie schon 1917 eine Schreibmaschine, Flugzeugpropeller und eine Sirene in der Komposition von Parade benutzte, lebte diese Überschreitung (des musikalischen Materials) genau davon, dass diese maschinellen Geräusche unvermeidbarerweise einerseits als reale Geräusche gehört werden, die ihre Geräuschquelle, einen das Geräusch hervorbringenden Gegenstand, imaginieren lassen, andererseits als Töne im Zusammenhang der musikalischen Komposition.
Der qualitative, sensuelle Bereich des Klanges wurde – zumindest partiell – seit Anton Webern unter dem Namen Klangfarbe in der Musik systematisiert. Klangfarbe ist von vornherein nicht quantifizierbar und deswegen nicht im Begriff fassbar und aufzeichenbar. Klangfarbe hat also, auch wenn sie durch ihre Bindung an bestimmte Instrumente, also bestimmte, wiedererkennbare Quellen, sekundär analysierbar wurde, eine irreduzible Beziehung zu einer materialistischen Aisthesis: einer qualitativen, sensuellen und differenzierenden Wahrnehmung. Durch eine Reihe von späteren Erfindungen der seriellen Musik, etwa durch Cluster, wurde der qualitative Bereich der Klangfarbe erweitert. Schon Cluster lassen sich kaum mehr in einem musikalischen System (dem tonalen System) durchhören, also analytisch hören, sondern bilden ein schwaches System der Klangfarbe. Aber erst mit der elektronischen Erzeugung von Klängen und Geräuschen (beide Begriffe greifen hier nicht mehr: sprechen wir, aus Mangel an einem präzisen Begriff, von Geräuschklängen) unabhängig vom tonalen System kennen wir eine Art von akustischen Phänomenen, die sich sowohl dem tonalen System als auch der Identifikation einer Quelle verweigern können. In dem Maße, wie diese undurchhörbar werden, eine sich nicht mehr dem Ohr oder dem Geist ordnende Mischung von Frequenzen ohne vorherrschenden Leitton, werden sie Rauschen. Verschiedene Typen oder ›Färbungen‹ von Rauschen können (als eine Art Erweiterung der Klangfarbe) sensuelldifferenziell verwendet und gehört werden. Hier ist erneut die Analogie zum optischen Bereich interessant: für die abstrakte Malerei waren das reine Weiß (Kasimir Malewitsch, Piero Manzoni) oder das reine Schwarz (Malewitsch, Ad Reinhardt) als Synthesis aller Farben immer von äußerstem Interesse; doch bildete diese Synthesis aller Farben zusätzlich auch einen, zwar kategorial vieldeutigen, aber sensuell durchaus einfachen, mit sich identischen Farbwert. Im Bereich des Klanges funktioniert das nicht: das Rauschen, ebenfalls eine Synthesis von Tonwerten, kann nicht mehr als ein eigener, einfacher Ton wahrgenommen werden, sondern zeigt sich als undurchdringliche, akustisch nicht zu durchhörende ›Wand‹.
Die permanente Anwesenheit der unterschiedlichen akustischen Einstellungen, der unterschiedlichen grundlegenden Hörweisen erzeugt Komplexität und eine Art von Dichte. Kristof Georgen hält die von ihm eingesetzten Geräusche, Klänge und Wörter meist in der Schwebe, auf jenem Grat, auf dem ihre Verstehbarkeit oder Hörbarkeit dem Hörer gerade noch Anknüpfungspunkte liefert, ihm akustische Horizonte von geräuscherzeugender Welt oder von ästhetischem Sinn beziehungsweise semantischer Bedeutung zur Verfügung stellt. Diese Anknüpfungspunkte, die stark mit Erinnerung verbunden sind, erlauben oder suggerieren sogar eine Vielzahl von Assoziationen, Erinnerungen, Empfindungen, die der persönlichen Geschichte zugehören, nicht einem allgemeinen Wissen; in diesem Sinne sind Geräusche generell persönlicher und intimer als optische Phänomene, auch als optische Reproduktionsmedien wie Fotografie oder Film.
Durch die Mehrdeutigkeit der bearbeiteten Geräusche entsteht akustische Dichte, die durch Schichtungen aller Art verstärkt werden kann, die vor allem aus der unentscheidbaren Vieldeutigkeit der bearbeiteten Geräusche und Klänge gespeist wird: nicht nur dadurch, dass durch die Schichtung von Geräuschen, Klängen und Wörtern unterschiedliche Welten – die Welt der materiellen Gegenstände oder Körper und die Welt der Bedeutungen oder des ästhetischen Sinns – gleichzeitig angespielt werden, sondern schon dadurch, dass das einzelne bearbeitete Klang- oder Geräuschphänomen in sich selbst doppeldeutig ist. Und mit dieser Mehrdeutigkeit entstehen gleichzeitig unterschiedliche Klangräume: materielle Räume, in denen Geräusche widerhallen und den Raum akustisch abtasten, oder immaterielle, mentale, gewissermaßen raumlose ästhetische Räume der Komposition oder der Semantik.
1 Chronologisches Werkverzeichnis, in: Musik-Konzepte, Sonderband John Cage, München, 1978, S. 163.
2 Luigi Russolo: Die Geräuschkunst, in: Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Hg.): Futurismus – Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Reinbek bei Hamburg, 1993, S. 235–241, hier S. 238.
3 Andy Warhol, in: Peter Gidal: Andy Warhol – Films and Paintings: The Factory Years, New York, 1971, 1991, S. 92–95.
aus: Brigitte Digel, Bernd Künzig (Hgg.): Kristof Georgen SOUND, Kat., Text: Nicole Fritz, Bernd Künzig, Johannes Meinhardt, Kehrer Verlag, Heidelberg, 2009.