„Bestand“ hat Kristof Georgen jene Fotografie eines Stilllebens genannt, von dem hier die Rede ist. Dessen Beschreibung leitet diesen Text ein, weil in dem zunächst unscheinbar wirkenden Bild wesentliche Merkmale der Kunst Kristof Georgens zusammentreffen. Eingeteilt in die Kategorien der Moderne, würde man Georgens Position als konzeptuell bezeichnen. Die Qualtität von Kunst jeder Art aber ist von derartigen Begrifflichkeiten unabhängig. Der Zauber von Georgens Arbeiten liegt vielmehr in deren Wandelbarkeit; ihre Poesie im Rhythmus der Formen; ihr Geheimnis im Ausdruck der Vermutung, daß jedes Wissen nur ein Ahnen ist.
Der Künstler ahnt.
„Er ahnt: diese Ordnung ist nicht so fest, wie sie sich gibt; kein Ding , kein Ich, keine Form, kein Grundsatz sind sicher, alles ist in einer unsichtbaren, aber niemals ruhenden Wandlung begriffen, im Unfesten liegt mehr von der Zukunft als im Festen, und die Gegenwart ist nichts als eine Hypothese, über die man noch nicht herausgekommen ist.“
Robert Musil hat diesen Satz geschrieben.
Er wird unter anderem auf einem Plakat zitiert, das Joseph Kosuth vor einigen Jahren für die Villa Merkel in Esslingen erarbeitet hat. Es zeigt ein Schwarzweiß-Foto von einem Tisch voller Papiere und leeren Stühlen drumherum – ein Bild von Musils Arbeitszimmer. Darüber steht in großen Lettern jener Satz. „Kein Ding, kein Ich, keine Form, kein Grundsatz sind sicher, alles ist in einer unsichtbaren, aber niemals ruhenden Wandlung begriffen ...“
Die Wandlung beginnt, an jedem Ort, zu jedem Zeitpunkt. Es ist eine Art Reise, die eine Suche ist, ohne klar formuliertes Ziel, deren Stationen Fragen sind, Vorschläge, Annahmen – Grundlagen der Kommunikation. “Der Ausgangspunkt für eine Auseinandersetzung kommt nicht aus Harmonie“, sagt Kristof Georgen. Der Antrieb zum Aufbruch liegt in der Widersprüchlichkeit möglicher Lebens-, Denk- und Wahrnehmungsformen. Dem Begriff Dissens kann im Werk Georgens zentrale Bedeutung gegeben werden. Dissens heißt Meinungsverschiedenheit. Für Georgen, zu dessen Arbeiten auch seine Auftritte als Musiker gehören, ist daneben die Wortverwandtschaft mit „Dissonanz“ wichtig, „Dissonanz“ als „der Zusammenklang von Tönen, der als Mißklang empfunden wird und nach der überlieferten Harmonielehre eine Auflösung fordert“. Längst ist die Zeit vorbei, in der die Liebhaber von Musik, Kunst, Theater die Harmonisierung in den Werken selbst erwarteten und fanden. Er ist zu einem Paradigma der Moderne geworden, die „Auflösung des Mißklangs“ vom Kunstwerk weg, hin zum Betrachter zu verlagern, den Rezipienten als Beteiligten mitverantwortlich zu machen.
David d’Angers schreibt bereits zu Beginn des Jahrhunderts: “In einem Kunstwerk sollte man sicherlich nicht alles aussprechen, denn dann würde man den Eindruck vermitteln, dass man den Betrachter für jemanden hält, für den es notwendig ist, dass ihm alles gesagt wird. Das Genie besteht darin, ihn auf den Weg zu bringen, damit er glaubt, alles selbst gefunden zu haben. Eben dies ist die Musik der Form“. Kristof Georgen setzt den „Mißklang“ in diesem Sinne bewußt ein, indem er mit scheinbar feststehenden Ordnungen bricht – durch formale Experimentierlust und zum Teil widersprüchlich erscheinende inhaltliche Bezüge.
Eines der immer wieder auftauchenden Gegensatzpaare beispielsweise heißt Kultur – Natur: Kehren wir noch einmal zurück zu der oben beschriebenen Fotografie „Bestand“. Das Bild wurde im Atelier Georgens aufgenommen. Der Künstler sitzt auf dem Stuhl, den das Spiegelbild zeigt. Der Raum, der in der runden Fläche wiedergegeben wird, ist der, in dem Kunst entsteht: ein Raum des Denkens, der Reflexion – der Spiegel als Reflexionsfläche und Symbol der Erkenntnis erhält in diesem Kontext noch eine metaphorische Bedeutung; es ist der Ort des bewußten Handelns, das heißt der Kultur. Unterstützt wird diese mögliche Interpretation durch einen Eingriff des Künstlers: auf der Spiegelfläche findet sich einer der für Georgen typischen „Punkte“ wieder: sie tauchen in seinen Arbeiten vor allem als rhythmisierende Elemente auf. Durch diesen „Punkt“ ist der Spiegel selbst zum Kunstwerk geworden.
Hinter dem Spiegel, und zum Teil von ihm verdeckt, steht die Fotografie einer Naturansicht. Sie zeigt einen ehemaligen Steinbruch. Georgen – vor seinem Akademiestudium lernte er den Beruf des Steinmetz` - hat zu Steinen eine besondere Beziehung. Immer wieder tauchen sie in seinen Arbeiten auf, oft künstlich hergestellt, als plastische Körper mit geglätteten Seitenflächen und nummeriert oder aufgeschichtet aus Faserplatten.